Buchbesprechung NZZ, 9.5.2019

Europas herausgeforderte Demokratie

Niklaus Nuspliger über die Gefahren von Nationalpopulismus und Technokratie in Europa – und neue Möglichkeiten der Partizipation der Bürger

Christoph Wehrli

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Werbung für die bevorstehenden Wahlen des Europäischen Parlaments. (Bild: Felipe Trueba / EPA)

Bei der bevorstehenden Wahl des Europaparlaments wird mit einem Erfolg jener Parteien gerechnet, denen die EU als Inbegriff bürgerferner Politik gilt. Sofern Nationalpopulisten in ihren Staaten beanspruchen, allein «den» Volkswillen zu vertreten, tendieren sie allerdings dazu, die liberale, pluralistische und rechtsstaatliche Demokratie infrage zu stellen. Darin sieht Niklaus Nuspliger, NZZ-Korrespondent in Brüssel, ebenso eine Gefahr wie in einer Technokratie, die sich auf Sachlogiken oder auf die Verarbeitung persönlicher Daten beruft, statt der Politik den nötigen Raum zu lassen.

An mehreren Orten erkundet der Journalist, begleitet von theoretischer Literatur, Probleme und neue Formen der europäischen Demokratie. So erläutert er die Entscheidungsverfahren in Brüssel —­ die starke Stellung des Ministerrats, die begrenzten Möglichkeiten des Parlaments und auch den grassierenden Lobbyismus —, er resümiert die autoritäre Entwicklung in Ungarn, beschreibt die Erfahrungen mit elektronischen Plattformen zur Bürgerbeteiligung in Reykjavik oder verfolgt in der Normandie eine lokale Versammlung als Teil einer von Paris angesetzten Konsultation.

Krisenerscheinungen zwischen «Elite» und «Basis» sind verbreitet, namentlich dienen die alten Volksparteien nicht mehr hinreichend als Kanäle. Der Autor setzt sich besonders mit der Rolle digitaler Kommunikationsmittel auseinander. Einerseits führen sie zu raueren Debatten, verstärken partikulare Sichtweisen und erleichtern die Desinformation. Vor allem Datenmissbrauch und intransparente Machenschaften sind zu bekämpfen, Nuspliger setzt dabei auf Kooperation von Unternehmen und Behörden. Anderseits versprechen die neuen Medien Chancen für den Einbezug der Bevölkerung. Diverse Städte experimentieren mit Plattformen für Vorschläge und Diskussionen. Für die «Deliberation», den Austausch auf der Suche nach einem Konsens, scheinen sich aber althergebrachte Zusammenkünfte nicht zu erübrigen.

Alle solchen Verfahren sieht Nuspliger als belebende, von den Behörden ernstzunehmende Ergänzung der üblichen politischen Prozesse. Verbindliche Volksentscheide schliesst er auch auf europäischer Ebene nicht aus (obschon sie die bloss vertragliche Grundlage der EU wohl strapazierten). Die Grösse und Vielfalt der Union rechtfertige deren Demokratiedefizit nicht. Auch wäre ein Rückzug auf den Nationalstaat kein Ausweg, da die EU viel eher eine Mitgestaltung der Globalisierung erlaubt. So erscheint ihre Anfechtung als eines der Paradoxe der Situation. In dem gut lesbaren, das Thema gewiss nicht erschöpfenden Buch vermeidet Niklaus Nuspliger Dramatisierungen und aufdringliche Töne. Er wägt sein Urteil ab und vertritt umso glaubwürdiger ein Engagement für eine Demokratie, die die Menschenrechte achtet und die Zukunftsdebatte offenhält.

Niklaus Nuspliger: Europa zwischen Populisten-Diktatur und Bürokraten-Herrschaft. NZZ Libro, Basel 2019. 200 S., Fr. 27.90.

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