Nimmt man den Grad der Erregung in der Brüsseler Blase oder in den Kommentarspalten deutschsprachiger Medien zum Nennwert, durchlebt die Europäische Union demokratiepolitische Schicksalstage. Im Europaparlament war von «Betrug am Wähler» und von «Verrat an der Demokratie» die Rede, nachdem die EU-Staats- und -Regierungschefs vor zehn Tagen die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als Kandidatin für das EU-Kommissions-Präsidium aus dem Hut gezaubert hatten. Manfred Weber, der für die christlichdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) im Europawahlkampf als Spitzenkandidat für dieses Amt angetreten war und schliesslich ebenso wie sein sozialdemokratischer Konkurrent Frans Timmermans übergangen wurde, sprach von «mächtigen Kräften, die das Wahlergebnis nicht akzeptieren wollten». Leitartikler riefen die EU-Abgeordneten dazu auf, von der Leyen bei der für Dienstag geplanten Wahl im Sinne eines Aufstands zurückzuweisen.
Zwei unversöhnliche Lager
Der Streit ums Kommissionspräsidium tobt auch darum so erbittert, weil er sich um die Frage dreht, was Demokratie in Europa eigentlich bedeutet. Auf der einen Seite stehen Länder wie Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei. Sie argumentieren, die demokratische Legitimität gehe primär von souveränen Nationalstaaten aus, die sich näher an der Lebenswirklichkeit der Bürger bewegten und deren Regierungen daher die wichtigen Fragen untereinander aushandeln sollten. Darum sehen Souveränisten im Spitzenkandidatensystem einen Rückschritt, da die Europaabgeordneten damit das in den EU-Verträgen verbriefte Recht der Regierungschefs aushebeln, dem Parlament einen Kommissionspräsidenten zur Wahl vorzuschlagen.
In Deutschland und in Brüssel ist auf der anderen Seite die gegenteilige Vorstellung verbreitet, durch eine Stärkung des Europaparlaments auf Kosten der Nationalstaaten würde die EU demokratischer. Die Spitzenkandidaten sollen die Macht des Europaparlaments vergrössern, indem sie für eine direktere Verbindung zwischen der Wahl des Europaparlaments und der Wahl des Kommissionspräsidenten sorgen. Davon versprechen sich die Verfechter eines stärker integrierten Europa mehr Bürgernähe, mehr Transparenz und einen Entwicklungsschritt der EU in Richtung parlamentarischer Demokratie.
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