5000 Menschen pendeln für die EU zwischen Brüssel und Strassburg. Sie brauchen acht Lastwagen voller Akten und diskutieren in 24 Sprachen. Ist die EU ein Bürokratiemonster? Wie mächtig ist das Parlament? Und kann man die EU neu denken? Niklaus Nuspliger
Der TGV, der den Brüsseler Südbahnhof an diesem Morgen in Richtung Strassburg verlässt, ist bis auf den letzten Platz gefüllt. An Bord sind neben ein paar Touristen vor allem Medienschaffende, Lobbyistinnen sowie Mitarbeiter der Europaabgeordneten, die einmal im Monat zwischen den beiden Tagungsorten des Europaparlaments hin- und herfahren.
Im Speisewagen wähnt man sich auf einer paneuropäischen Klassenfahrt, doch Reisefreude kommt nicht auf. Ginge es nach den Abgeordneten, wären die Plenardebatten in Strassburg längst abgeschafft. Die parlamentarischen Dienste haben eine ganze Liste mit Argumenten erstellt, die für die Konzentration auf einen einzigen Tagungsort sprechen.
Nicht nur 5000 Personen, sondern auch acht Lastwagen mit Akten müssen jeden Monat von Brüssel nach Strassburg und wieder zurück befördert werden. Dies verursacht laut dem Parlament nicht nur unnötige CO2-Emissionen. Vielmehr muss das Strassburger Gebäude auch das ganze Jahr lang unterhalten werden, obwohl es nur an 42 Tagen im Jahr genutzt wird.
Bei der bevorstehenden Wahl des Europaparlaments wird mit einem Erfolg jener Parteien gerechnet, denen die EU als Inbegriff bürgerferner Politik gilt. Sofern Nationalpopulisten in ihren Staaten beanspruchen, allein «den» Volkswillen zu vertreten, tendieren sie allerdings dazu, die liberale, pluralistische und rechtsstaatliche Demokratie infrage zu stellen. Darin sieht Niklaus Nuspliger, NZZ-Korrespondent in Brüssel, ebenso eine Gefahr wie in einer Technokratie, die sich auf Sachlogiken oder auf die Verarbeitung persönlicher Daten beruft, statt der Politik den nötigen Raum zu lassen.
An mehreren Orten erkundet der Journalist, begleitet von theoretischer Literatur, Probleme und neue Formen der europäischen Demokratie. So erläutert er die Entscheidungsverfahren in Brüssel — die starke Stellung des Ministerrats, die begrenzten Möglichkeiten des Parlaments und auch den grassierenden Lobbyismus —, er resümiert die autoritäre Entwicklung in Ungarn, beschreibt die Erfahrungen mit elektronischen Plattformen zur Bürgerbeteiligung in Reykjavik oder verfolgt in der Normandie eine lokale Versammlung als Teil einer von Paris angesetzten Konsultation.
Krisenerscheinungen zwischen «Elite» und «Basis» sind verbreitet, namentlich dienen die alten Volksparteien nicht mehr hinreichend als Kanäle. Der Autor setzt sich besonders mit der Rolle digitaler Kommunikationsmittel auseinander. Einerseits führen sie zu raueren Debatten, verstärken partikulare Sichtweisen und erleichtern die Desinformation. Vor allem Datenmissbrauch und intransparente Machenschaften sind zu bekämpfen, Nuspliger setzt dabei auf Kooperation von Unternehmen und Behörden. Anderseits versprechen die neuen Medien Chancen für den Einbezug der Bevölkerung. Diverse Städte experimentieren mit Plattformen für Vorschläge und Diskussionen. Für die «Deliberation», den Austausch auf der Suche nach einem Konsens, scheinen sich aber althergebrachte Zusammenkünfte nicht zu erübrigen.
Alle solchen Verfahren sieht Nuspliger als belebende, von den Behörden ernstzunehmende Ergänzung der üblichen politischen Prozesse. Verbindliche Volksentscheide schliesst er auch auf europäischer Ebene nicht aus (obschon sie die bloss vertragliche Grundlage der EU wohl strapazierten). Die Grösse und Vielfalt der Union rechtfertige deren Demokratiedefizit nicht. Auch wäre ein Rückzug auf den Nationalstaat kein Ausweg, da die EU viel eher eine Mitgestaltung der Globalisierung erlaubt. So erscheint ihre Anfechtung als eines der Paradoxe der Situation. In dem gut lesbaren, das Thema gewiss nicht erschöpfenden Buch vermeidet Niklaus Nuspliger Dramatisierungen und aufdringliche Töne. Er wägt sein Urteil ab und vertritt umso glaubwürdiger ein Engagement für eine Demokratie, die die Menschenrechte achtet und die Zukunftsdebatte offenhält.
Niklaus Nuspliger: Europa zwischen Populisten-Diktatur und Bürokraten-Herrschaft. NZZ Libro, Basel 2019. 200 S., Fr. 27.90.
DONNERSTAG 2. MAI, 18H30-20H00 IM POLIT-FORUM BERN
Am 26. Mai 2019 finden die Wahlen in das europäische Parlament statt. In seinem soeben erschienenen Buch stellt Niklaus Nuspliger, NZZ-Korrespondent in Brüssel, die gesamteuropäische Dimension der Demokratiekrise ins Zentrum und berichtet von Schauplätzen europäischer Politik. Für die Demokratie stellen sich von der nationalistischen Welle, über Fake News bis zu Bürokratisierungstendenzen existentielle Fragen – und die Europawahl 2019 stellt die Weichen.
Nach einem Input diskutiert Niklaus Nuspliger mit illustren Gästen unter der Leitung von Nicoletta Cimmino (Echo der Zeit).
Podiumsdiskussion:
Christa Markwalder (Nationalrätin FDP und seit 2003 Mitglied der Aussenpolitischen Kommission) Nicola Forster (Präsident von foraus, dem Think Tank zur Aussenpolitik) Niklaus Nuspliger (NZZ-Korrespondent in Brüssel) . Moderation:Nicoletta Cimmino (Radio SRF Echo der Zeit) .
Podiumsdiskussion: Christa Markwalder (Nationalrätin FDP und seit 2003 Mitglied der Aussenpolitischen Kommission) Nicola Forster (Präsident von foraus, dem Think Tank zur Aussenpolitik) Niklaus Nuspliger (Autor «Europa zwischen Populisten-Diktatur und Bürokraten-Herrschaft, NZZ-Korrespondent in Brüssel).
Moderation:Nicoletta Cimmino (Radio SRF Echo der Zeit) .
A DIFFERENT VIEW: Niklaus Nuspliger, the EU correspondent for Swizerland’s Neue Zürcher Zeitung, takes a look at the state of Europe through a wider lens. And what he sees isn’t pretty. His new book, “Europa zwischen Populisten-Diktatur und Bürokratenherrschaft” (“Europe, in between populist dictatorship and bureaucratic rule”), which hits bookstores in German tomorrow, describes the crisis of liberal democracies. It draws on his travels around the Continent — he reports from Budapest, Amsterdam, a tennis court in southern France, a “dusty bench on rondpoint Schuman” — and combines a Swiss sense of distance from the EU’s internal workings with his own sharp analysis on the success of illiberal politics. Refreshingly, the book doesn’t stop there.
How to engage with voters: The book’s most inspiring sections mull the question of how democracies can defend themselves from being taken over by a reckless majority and discuss the pros and cons of various forms of citizens’ participation, including direct democracy and Rousseau, the Italian 5Star Movement’s online democracy tool. He also goes on a fascinating tangent on how the Swiss manage to turn even the most radical referenda results into pragmatic policies.
Während den Traditionsparteien bei der Europawahl Verluste drohen, können die Nationalisten mit Gewinnen rechnen. Ob sie aber die Politik des Europaparlaments konkret beeinflussen können, hängt von ihrer internen Geschlossenheit sowie von der Kooperationsbereitschaft der Christlichdemokraten ab
In Brüssel und Strassburg blickt man der Europawahl vom 23. bis 26. Mai mit gemischten Gefühlen entgegen. 373 Millionen Wahlberechtigte aus 27 Mitgliedstaaten sind dazu aufgerufen, ein neues EU-Parlament zu wählen – wobei es nach der Verschiebung des Brexits immer wahrscheinlicher wird, dass auch die 66 Millionen Briten nochmals an die Urnen gehen können. Der Brexit hat zwar in den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten die Lust auf einen EU-Austritt verringert. Zudem nähren Umfragen die Hoffnung, dass die Wahlbeteiligung nach jahrelangem Sinkflug endlich wieder steigt. Gleichzeitig rechnen nationalistische Kräfte mit erheblichen Sitzgewinnen, weshalb die Wahl zur Entscheidungsschlacht zwischen Populisten und Proeuropäern stilisiert wird. Matteo Salvini von der italienischen Lega kündigt bereits eine «Revolution» an. Manfred Weber, Spitzenkandidat der christlichdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP), spricht von einer «Schicksalswahl». Und sein sozialdemokratischer Konkurrent Frans Timmermans wähnt sich in einem «Kampf um die Seele Europas».
Volksparteien im Niedergang
Solche Aussagen sind natürlich Wahlkampfgetöse. Doch auch wenn die verfügbaren Projektionen aus methodischen Gründen mit grosser Vorsicht zu geniessen sind, zeichnet sich ab, dass das neue Europaparlament anders aussehen wird als das alte. Der Trend hin zum Zerfall der traditionellen Volksparteien und zur parteipolitischen Zersplitterung dürfte sich akzentuieren. 1999 stellten die EVP und die Sozialdemokraten gemeinsam noch zwei Drittel aller Mandate im EU-Parlament. 2014 war es nur noch gut die Hälfte der Sitze. Und 2019 drohen die Traditionsparteien ihre Mehrheit erstmals zu verlieren.
Auf Sitzgewinne können einerseits neue und proeuropäisch ausgerichtete Kräfte wie Emmanuel Macrons Bewegung La République en marche oder die Grünen hoffen. Andererseits könnten linke und rechte EU-Skeptiker je nach Projektion bis zu 250 Mandate im Parlament erringen, das nach dem Brexit eigentlich von 751 auf 705 Sitze verkleinert werden soll. Nehmen die Briten an der Wahl teil, wird die Verkleinerung verschoben, und die Sozialdemokraten könnten angesichts guter Umfragewerte von Labour ihre drohenden Verluste auffangen. Gestärkt würden aber auch nationalistische und EU-skeptische Kräfte.
Das scheidende Europäische Parlament
Beobachter des Parlamentsbetriebs diskutieren in den Strassburger Cafés und Restaurants drei miteinander verbundene Fragen: Kommt es nach der Wahl zu einer Neugruppierung der Proeuropäer in der politischen Mitte? Droht der christlichdemokratischen EVP die Spaltung? Und gelingt es den Nationalisten, ihre Kräfte zu bündeln und dem Parlament ihren Stempel aufzudrücken?
H.E. Urs Bucher, Ambassador of Switzerland to the EU, cordially invites you to share a typical #SwissBreakfast and join the discussion on „Direct democracy – an antidote to populism?“ on Wednesday 3rd April 2019 from 9.00 am to 10.30 am at the Mission of Switzerland to the EU, Place du Luxembourg 1, 1050 Brussels.
Programme:
Welcome speech by Dieter Cavalleri, Minister at the Mission of Switzerland to the EU.
Followed by a discussion between
Claude Longchamp Political scientist, historian and chairman of the board of gfs.bern (Gesellschaft für Sozialforschung, Switzerland)
Jo Leinen Member of the European Parliament (S&D, Germany)Moderated by Niklaus Nuspliger Correspondent NZZ in Brussels
Modern representative democracy is at stake. The challenges come from all sides: on the one hand from the globalised economy, which transcends in many ways the reach of national democracies, and on the other hand from populist movements trying to undermine the rule of law and the separation of powers.
Over the past years a rise in popular votes in countries all over Europe has been observed. The development towards a more participative democracy has perhaps been the most comprehensive in Switzerland. Thanks to its use of the initiative and referendum process, Switzerland has become a reference in discussions about modern democracy.
While the European elections are approaching, voices are being raised demanding more direct participation in the decision making process. Can instruments like the European Citizens‘ Initiative (ECI) unleash democratic potential at the EU level? Can direct democracy help to restrain populist movements and become an antidote to populism? How can governments and institutions meet the demand for a more participative democracy and facilitate a bottom-up approach?